LACDJ Baden-Württemberg

Wenn kein Kopftuch, dann auch kein Kreuz?

Rechtsanwalt Dr. Winfried Klein zu aktuellen Herausforderungen für das Staatskirchenrecht

Gibt es nur die Alternative - kein Kopftuch, dann aber auch kein Kreuz? Zu dieser provokant verkürzten These referierte am 09.03.2009 beim RACDJ Stuttgart Dr. Winfried Klein, Rechtsanwalt aus Karlsruhe und Schriftführer des LACDJ.
Dr. Klein stellte gleich zu Beginn seines Referats, das alsbald von einer regen Diskussion der Besucherinnen und Besucher begleitet wurde, fest, dass sich nicht nur die religiös-gesellschaftliche Realität in den letzten 15 bis 20 Jahren verändert habe. Auch die Rechtsprechung habe auf die sehr akzentuierte Religionsausübung einiger Vertreter einer zugewanderten Religion mit Veränderungen reagiert.

Heute mag es erstaunen, doch im Jahr 1973 war es für das Bundesverfassungsgericht noch selbstverständlicher, dass die negative Glaubensfreiheit (gerade von „Minderheiten“) auch zurücktreten kann. So betonte es in einem Rechtsstreit um ein aufgehängtes Kreuz in einem Gerichtssaal, das in Art. 4 Abs. 1 GG verkörperte Freiheitsrecht könne einen Minderheitenschutz selbst vor verhältnismäßig geringfügigen Beeinträchtigungen jedenfalls dort rechtfertigen, wo die Inanspruchnahme dieses Schutzes nicht mit Rechten einer Bevölkerungsmehrheit zur Ausübung ihrer Glaubensfreiheit kollidiere (BVerfGE 35, 366 = NJW 1973, 2196). Im Umkehrschluss hätte es damals vermutlich angenommen, dass ein muslimischer, ein atheistischer und ein anthroposophisch geprägter Schüler in einer Klasse mit 17 katholischen und fünf evangelischen Mitschülern ein Kreuz im Klassenzimmer hinnehmen müssen.

1995 sah es schon anders aus: Das Bundesverfassungsgericht gab der Verfassungsbeschwerde von anthroposophisch orientierten Eltern eines Schülers in einer ganz überwiegend mit Schülern christlich orientierter Eltern besetzten Klasse gegen die Anbringung eines Kruzifixes statt (BVerfGE 93,1 = NJW 1995, 2477). Noch heute lesenswert ist in dieser Entscheidung auch das Minderheitenvotum (Seidl, Söllner, Haas), das u.a. die Aufgabe des Gesetzgebers betonte, einen Ausgleich zwischen positiver und negativer Religionsfreiheit herzustellen und etwa ausführte: „In einem Bereich, den der Staat seiner organisatorischen und weitgehend auch inhaltlichen Gestaltung unterstellt hat, darf der Gesetzgeber auch durch das Bereithalten sinnfälliger Wertsymbole, die in dem betreffenden Bundesland verbreiteter Übung entsprechen, einen organisatorischen Rahmen schaffen, in dem sich zugleich die bei einem großen Teil der Schüler und ihrer Eltern vorhandenen religiösen Überzeugungen entfalten können“. Unvergessen bleibt auch das nach der Entscheidung von exponierten Vertretern der anthroposophischen Weltanschauung geäußerte Bedauern, nach ihrem Verständnis störten aufgehängte Kreuze oder Kruzifixe nicht (vgl. etwa Hamburger Abendblatt 18.8.1995, Seite 4). Das Bundesverfassungsgericht hatte damit also möglicherweise der negativen Religionsfreiheit einer ganz individuellen religiösen Vorstellung den Vorrang vor der positiven Religionsfreiheit Vieler eingeräumt.

Diese Tendenz dürfte sich nach 1995 fortgesetzt haben. Dr. Klein betonte, die Tendenzen in der Rechtsprechung ließen sich durchaus auf den Nenner bringen: „Wenn kein Kopftuch, dann aber auch kein Kreuz!“. Hauptgrund dafür dürfte nach Meinung des Referenten die Ansicht sein, in einer pluralistischen Gesellschaft sei es unmöglich, allen Vorstellungen Rechnung zu tragen. Deshalb favorisiere diese Ansicht die Lösung, alle religiöse Symbole aus dem öffentlichen Leben zu verbannen.

Dieser Auffassung stellte der Referent bedenkenswerte Zweifel entgegen: Denn wenn der Staat das Religiöse, also Kopftuch und Kreuz aus den Schulen und Gerichten verbanne, bekenne er sich damit fast unausweichlich zugleich positiv zur Religionslosigkeit, möglicherweise zum Atheismus. Dies sei ihm als neutralem Staat aber ebenso verwehrt. Neutralität dürfe nicht mit Wertelosigkeit verwechselt werden. Wenn man die dargestellte Auffassung konsequent weiterdenke, führe sie vermutlich auch dazu, dass nicht nur das Zeigen/Tragen religiöser Symbole, sondern auch das Äußern religiöser Ansichten in Schulen (abgesehen vom Religionsunterricht) und anderswo verboten werden müsse, um Konflikten vorzubeugen. Das entspreche dem im Grundgesetz enthaltenen Neutralitätsgebot jedoch nicht. Es sei zwar im Grundgesetz an keiner Stelle ausdrücklich erwähnt und könne nur aus einer Zusammenschau verschiedener Verfassungsnormen entnommen werden. Namentlich folge das Gebot staatlicher Neutralität aus der Garantie der Glaubens-, Gewissens- und Bekenntnisfreiheit (Art. 4 I, II GG), aus dem Verbot der Staatskirche (Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 I WRV) und aus dem Verbot der Benachteiligung oder Bevorzugung eines Bürgers aus religiösen Gründen (Artt. 3 III, 33 III GG). Zwar sei es schon dem Wesen des säkularen und grundsätzlich liberal ausgerichteten Staates immanent, als Heimstatt aller Staatsbürger sich nicht mit einer bestimmten Glaubensgemeinschaft zu identifizieren, den Glauben von Minderheiten zu achten und alle Glaubensgemeinschaften gleich zu behandeln. Die Ausrichtung des Neutralitätsgebotes im Grundgesetz auf die Freiheitsverbürgungen für den Bürger gehe aber weiter. Richtig verstanden bedeute das Gebot, der Staat sei gehalten, seinen Bürgern die Möglichkeit zu eröffnen, ihren pluralen religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen im privaten wie auch im öffentlichen Leben so weit wie möglich Geltung zu verschaffen.

In der sich fortsetzenden Diskussion wurde unter anderem die Frage des Körperschaftsstatus für islamische Gemeinschaften erörtert (vgl. hierzu den nach wie vor lesenswerten Aufsatz des Referenten in Rechtsforum 2/2007, S. 3 f.). Bei der Erörterung von Aspekten des „Kopftuchstreits“ betonten viele Diskutanten, man verwechsele hier politische mit religiösen Symbolen. Der Referent verwies darauf, dass die Gerichte hier regelmäßig (nur) auf die Angaben der Trägerin abstellten, weswegen sie das Tuch trage. Und immerhin hätten hier die Verwaltungsgerichte (vgl. zuletzt BVerwG, B. v. 16.12.2008 - 2 B 46/08 -) und das Verfassungsgericht scheinbar einen Ausweg präsentiert, um nicht strikt „Wo kein Kopftuch, da auch kein Kreuz!“ judizieren zu müssen. § 38 Abs. 2 des baden-württembergischen Schulgesetzes (die Bestimmung u.a. über das Tragen bestimmter Symbole) werde verfassungskonform ausgelegt: Diese Regelung gestatte - so ausgelegt - keine Bevorzugung des christlichen Glaubens. Vielmehr solle nach Überzeugung der Gerichte der Begriff des zulässigen „Christlichen“ eine vom Glaubensinhalt losgelöste, aus der Tradition der christlich-abendländischen Kultur hervorgegangene Wertewelt bezeichnen, die erkennbar auch dem Grundgesetz zugrunde liege und unabhängig von ihrer religiösen Fundierung Geltung beanspruche. Doch auch hier zeigte der Referent bedenkenswerte Zweifel auf: Er stellte in Frage, ob es überhaupt möglich sei, den Begriff des „Christlichen“ als eine vom Glaubensinhalt losgelöste Wertewelt zu verstehen, ohne ihn des „Christlichen“ zu berauben Denn wenn die Definitionshoheit, was „christlich“ sei, von der religiösen in die staatliche Sphäre übergehe, maße sich der Staat etwas an, was ihm unter der Geltung des Neutralitätsgebots sicher nicht zustehe, nämlich letztlich Glaubensinhalte zu definieren.

Für viele Teilnehmer verstärkte sich am Ende der Veranstaltung der Eindruck, dass überzeugende juristische Lösungen vieler religiös-gesellschaftlichen Herausforderungen noch ausstehen.