Jutta Driesch zur Reform der Leistungen bei Arbeitslosigkeit
Kaum ein Tag vergeht ohne Erwähnung des Schlagworts „Hartz IV“ in den Medien. Dabei wird dieser Begriff häufig negativ besetzt. Grund genug für den RACDJ Stuttgart, sich diesem Thema zu widmen und eine Expertin einzuladen: Jutta Driesch, Geschäftsführerin SGB II der Regionaldirektion Stuttgart der Bundesagentur für Arbeit.
Dr. Frank Wenger, Vorsitzender des RACDJ Stuttgart (links) und Jutta Driesch, Geschäftsführerin SGB II der Regionaldirektion Stuttgart der Bundesagentur für Arbeit (rechts)
Vor etwa 15 Teilnehmerinnen und Teilnehmern erläuterte sie am 18.6.2008 zunächst die Wandlung dieses Begriffs, der ursprünglich für das vierte Paket der Hartz-Reformgesetze gedacht war, hin zur Bezeichnung einer Leistungsart, die rechtlich korrekt allerdings als Leistung nach dem SGB [Sozialgesetzbuch] II benannt werden müsste. Auch sie konstatierte den Befund, dass die Berichterstattung über diese Leistungsform von Anfang an eher negativ eingefärbt gewesen sei. Dabei stelle das SGB II den größten Reformschritt im System der sozialen Sicherung der Bundesrepublik Deutschland dar. Die bisherigen Empfänger von Arbeitslosenhilfe, die im Anschluss an den Bezug von Arbeitslosengeld (geregelt im SGB III) gezahlt worden war, wurden gemeinsam mit den erwerbsfähigen Sozialhilfeempfängern in ein neues, einheitliches und steuerfinanziertes Sozialleistungssystem überführt.
Die qualitative Bedeutung dieser Sozialrechtsreform werde schon darin deutlich, dass derzeit ca. 7,24 Mio. Personen aus 3,7 Mio. Bedarfsgemeinschaften Leistungen aus diesem System erhielten. Wichtiger noch sei der dahinterstehende Paradigmenwechsel: Das SGB II sei kein rein fürsorgerisches System mit dem Ziel, als letztes soziales Netz zur Verfügung zu stehen. Vielmehr sei Ziel der Grundsicherung für Arbeitsuchende die gesellschaftliche Teilhabe durch Arbeit. Jeder (erwerbsfähige) Hilfebedürftige solle die Unterstützungsleistung erhalten, die es ihm ermögliche, den Lebensunterhalt aus eigenen Mitteln zu bestreiten. Anders als in der Sozialhilfe stehe in der Grundsicherung die Aktivierung der Hilfebedürftigen mit dem Ziel der Integration in den Arbeitsmarkt im Vordergrund. Schlagwortartig lasse sich formulieren: „Wurde in der Sozialhilfe jeder versorgt, wird jetzt jeder gebraucht“.
Zu Unrecht habe man das neue System zunächst deswegen schlechtgeredet, da das erste Jahr der Einführung des SGB II von einer „Explosion“ der Leistungsbezieher geprägt gewesen sei. Diese Zahlen lagen im Jahr 2005 deutlich über dem von der Politik angenommenen Niveau und stiegen im Jahresverlauf noch weiter an. Dafür ließen sich - so Driesch - einige Gründe identifizieren: ein Teil des Anstiegs war zu erwarten, weil früher nicht erfasste erwerbsfähige Sozialhilfeempfänger als Arbeitslose gezählt wurden. Durch die Einführung des SGB II wurde aber auch die „Dunkelziffer“ derjenigen Personen verringert, die zwar für Sozialhilfe anspruchsberechtigt waren, aber bisher keinen Antrag auf Sozialhilfe gestellt haben. Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) schätzt, dass im alten Sozialhilferecht ca. 730.000 Personen, darunter viele Alleinstehende und Erwerbstätige im Niedriglohnbereich, ihre Leistungsansprüche nicht geltend gemacht haben. Die Hemmschwelle, ein Jobcenter zur Antragstellung aufzusuchen, sei wohl wesentlich geringer, als zum Sozialamt zu gehen.
Die Zahl der Bedarfsgemeinschaften und der erwerbsfähigen Hilfebedürftigen habe im Mai 2006 mit 4,13 Bedarfsgemeinschaften ihren bisherigen Höchststand erreicht. Seit Anfang 2007 ging die Zahl der erwerbsfähigen Hilfebedürftigen und der Bedarfsgemeinschaften langsam zurück, allerdings nicht so stark wie die Zahl der Arbeitslosen im SGB II. Dieser scheinbare Widerspruch liege auch daran, dass die Anzahl der Personen, die parallel zu einer Erwerbstätigkeit SGB II Leistungen beziehen würden, kontinuierlich gestiegen sei (sogenannte „aufstockende Leistungen“). Die Chancen, den SGB II-Bezug rasch wieder zu verlassen, seien unterschiedlich. Während Alleinstehende und Paare vergleichsweise schnell wieder aus dem Leistungsbezug ausschieden (nach einem Jahr sind ca. 50% nicht mehr im Bezug), schafften den Sprung in diesem Zeitraum bei den Alleinerziehenden nur etwa 25%.
Driesch betonte mehrfach, welche Energieleistung seitens der zuständigen Einrichtungen erbracht worden sei, um nach dem Gesetzesbeschluss im Sommer 2004 die rechtzeitige Leistungserbringung zum 1.1.2005 sicherzustellen. Dabei sei dies organisatorisch bislang in drei Modellen erfolgt: Die Bundesagentur für Arbeit ist letztlich zuständig für die Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts aller in einer Bedarfsgemeinschaft lebenden Personen (Arbeitslosengeld II, Sozialgeld sowie Mehrbedarf) und für alle Leistungen mit dem Ziel der Eingliederung in Arbeit. Der kommunale Träger ist zuständig für die Leistungen für Unterkunft und Heizung, Kinderbetreuungsleistungen, die Schuldner- und Suchtberatung, die psychosoziale Betreuung und die Übernahme von besonderem, einmaligem Bedarf. Um Leistungen aus „einer Hand“ zu gewährleisten, sollten die beiden Leistungsträger Agentur für Arbeit und Kommune Arbeitsgemeinschaften (ARGEn) errichten, was in Baden-Württemberg in einer Vielzahl von Fällen gelungen ist. Im Rahmen einer Experimentierklausel wurden auf Antrag bundesweit 69 kommunale Träger zugelassen, die in alleiniger Verantwortung sowohl die Leistungen der Agentur für Arbeit als auch die der Kommune erbringen (in Baden-Württemberg: 5 Landkreise). In einigen Fällen hätten sich Bundesagentur und kommunaler Träger nicht einigen können und man arbeite dort bislang nebeneinander her.
Von daher sei das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 20.12.2007 (vgl. NVwZ 2008, 183) zur Unvereinbarkeit der jetzigen ARGEn mit Verfassungsrecht eine schwere Bürde und bedürfe es dringend einer raschen politischen Entscheidung zur organisatorischen Neuordnung. Derzeit würden in Arbeitsgruppen folgende Varianten einer Neuorganisation geprüft: - Bisheriges Modell der ARGEn durch eine Grundgesetzänderung verfassungsrechtlich absichern. - Modell des „kooperativen Jobcenters“, d.h. beide Behörden – Agentur für Arbeit- und Kommune – sollen in getrennter Trägerschaft aber nebeneinander unter einem Dach die Dienstleistungen anbieten. - „Bayern-Modell“, das vorsieht, die Integration in Arbeit durch die Agentur für Arbeit und die Geldleistungen durch die Kommune zu erbringen. - die Ausweitung und die Entfristung des Optionsmodells, d.h. also Ermöglichung einer weitgehenden Übertragung aller Aufgaben auf die kommunalen Träger.
In der sich anschließenden regen Diskussion wies Frau Driesch unter anderem darauf hin, es sei nicht korrekt, von der Zahl aufstockender Hilfeempfänger zwingend auf die Notwendigkeit von Mindestlöhnen und das Vorhandensein von „Ausbeutung“ zu schließen und belegte dies durch Beispiele etwa von Familienvätern.
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